Ein gewichtiger Unterschied zum Klettern an Plastik...
Felsenfest
Irgendwann im Sommer 1995 war ich im Oberreintal. Bei Bilderbuchwetter wollten wir "das gelbe U" klettern, ein Gebietsklassiker moderater Schwierigkeit. Am Einstieg beginnt bereits der Tiefblick: "da pfeift's fei ganz schee obi…"
Und los: vom Stand zwei, drei Meter nach rechts und dann eine gut kletterbare Platte hinauf. Nach zehn Metern vielleicht einen Keil legen? Ach was - ich fühle mich bestens, die Felsqualität ist top, noch fünf Meter zum ersten Haken, geht scho!
Einen Meter links sehe ich eine bizarre Felsformation: mitten in der steilen Platte steht ein runder Kegel. Das gibt's doch nicht? Es bleibt nicht beim Betrachten, eine leichte Berührung - und ich habe einen runden, kopfgroßen Stein in der Hand. Die Stelle, an der er zuvor saß, war froh, ihn los zu sein. Wie ich ihn auch drehte und probierte - es gelang nicht, ihn wieder abzulegen.
hinunterwerfen - die Frage nur: wohin?
Doch inzwischen war die Ressource "Ruhe und Ausgeglichenheit" endgültig aufgebraucht. Daher: Abseilgerät gezückt, runter, abgestiegen, und nachmittags noch a bissl Nerven beruhigen im hüttennahen Klettergarten.
Wir starten mit einem Foto und sehen dort Marlene, unterwegs in einer alpinen Route. Was wir nicht sehen, ist Marlenes Schutzengel hinter ihr. Aber er ist da und voll in Aktion.


Auf der Skizze rechts sehen wir die Stelle aus der Perspektive des Schutzengels:
Vor hundert oder tausend Jahren hat es diesen Felsbrocken wohl so noch nicht gegeben. Vermutlich befand sich damals die markante Abbruchlinie noch mehrere Meter weiter rechts und Marlenes Griff war Teil dieser großen Platte.
Offenbar hat es überstanden, weil es in der Tiefe irgendwie besser mit der darunter liegenden Platte verzahnt ist. Es geht von allen Seiten hinter die Platte, darum ist sie ja gerade so ein schöner Griff. Seit dem Absturz der Hauptplatte liegt dieser Teil jetzt blank und ist Regen, Frost und Wetter ausgesetzt.
Um unsere Schutzengel nicht zu sehr zu stressen, begegnen wir solchen Felsstrukturen mit äußerstem Mißtrauen. Wenn wir schlechtere, aber halbwegs zu haltende Griffe finden, nehmen wir besser diese, vielleicht klettern wir auch auch einen Meter weiter links oder rechts. Wenn wir kein Weiterkommen sehen, ohne diese Felsschuppe zu benutzen, dann belasten wir sie höchst vorsichtig und vermeiden jede Belastung in Auszugsrichtung (vom Fels weg).
Beim Klettern achten wir auf Vieles: was taugen die Sicherungen, muß ich vielleicht verlängern, was macht das Wetter, und vieles, vieles mehr. Da kommt es auf eines mehr auch nicht mehr darauf an:
und auch das soll auf seine Kosten kommen. Bei "interessanten" Felsstrukturen beantworten wir uns die Frage, wie sie wohl entstanden sind. Das gibt uns auch Auskunft, ob diese für's Klettern hilfreichen Strukturen halten, bzw. bei welcher Belastung sie voraussichtlich ausbrechen würden.
Felsenfest! Leider ist "Fels" das nicht immer, es liegt in deinem ureigensten Interesse das zu erkennen, bevor der Fels das zu erkennen gibt!
Wir registrieren bei dieser Gelegenheit auch, ob ein Versagen 100, 200 Gramm Gestein zum Fallen bringen, oder ob, wie im oberen Bild, 10 oder 20 Kilo herabstürzen...PS.: und natürlich entschuldigt es Marlene, daß ich ihr - ohne sie danach zu fragen - einen kleinen Schutzengel angedichtet habe :-))